Bildungstalk mit der baden-württembergischen Kultusministerin Theresa Schopper und der Augsburger Bildungsbürgermeisterin Martina Wild.

Im Rahmen unseres Grünen Herbstempfangs am 16. September 2022 hat Verena von Mutius-Bartholy mit Theresa Schopper und Martina Wild über Digitalisierung, Bildungsgerechtigkeit, Lehrkräftemangel und andere große Herausforderungen im Bereich Bildung gesprochen. Theresa Schopper ist seit Mai 2021 Ministerin für Kultus, Jugend und Sport der baden-württembergischen Landesregierung.

Verena von Mutius-Bartholy: Bildung ist eine Großbaustelle. Unsere Bildungslandschaft steht vor fundamentalen Umwälzungen. Inhalte, Prozesse, Potenziale und Problemlagen haben sich verändert, Bildungsorte müssen an neue Anforderungen angepasst und Schieflagen korrigiert werden. Was sind aus eurer Sicht die dringendsten aktuellen Themen in der Bildungspolitik?

Theresa Schopper: Eines der dringendsten Probleme eigentlich überall in Deutschland ist der Lehrkräftemangel. Ein weiteres großes Thema ist mangelnde Bildungsgerechtigkeit. Fast 50% der Kinder an unseren Schulen haben einen Migrationshintergrund. Dem werden wir oft nicht gerecht, weil es uns nicht gelingt, den Bildungserfolg von der Herkunft zu entkoppeln. Dritter Punkt: Digitalisierung. Wenn Corona etwas Gutes hatte, dann dass unser Bildungssystem in Sachen Digitalisierung einen Booster bekommen hat. Ansonsten hat die Pandemie natürlich gerade Kinder und Jugendliche schwer getroffen und Problemlagen, insbesondere im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit, drastisch verschärft. Damit werden wir noch sehr lange zu kämpfen haben!

Martina Wild: Auf Augsburg bezogen sind die größten Herausforderungen gute Bildungsorte zu schaffen und Schulen und Kitas klimagerecht zu sanieren, dem Fachkräftemangel zu begegnen und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) umzusetzen, also uns zu fragen: Wie gestalten wir unsere Welt zukunftsfähiger? Um Bildungschancen zu ermöglichen, brauchen wir passende Angebote wie etwa die Willkommenskita, die Kinder aus der Ukraine, aber zum Beispiel auch aus Afghanistan in Augsburg gut ankommen lässt. Alle Kinder sollen einen guten Start in unserer Stadt haben!

Verena von Mutius-Bartholy: Bildungsgerechtigkeit ist ein Schlüsselproblem, über das man tagelang sprechen könnte. Die soziale Mobilität in Deutschland ist viel geringer als in anderen europäischen Ländern. Es ist ein bildungspolitischer Skandal, dass ein “Aufstieg durch Bildung” sogar immer schwerer gelingt. Bildung darf kein Privileg sein, sondern muss allen gleichermaßen zugutekommen! Wie versucht ihr in Baden-Württemberg die Startchancen von Kindern, die keinen privilegierten Hintergrund haben,zu verbessern?

Theresa Schopper: Da müssen wir schon in den Kitas ansetzen. Sprache ist der Schlüssel zur Welt. Und Sprache hat übrigens gar nicht unbedingt etwas mit Migrationshintergrund zu tun, sondern vor allem mit sozialer Herkunft. Wir haben auch spracharme deutsche Familien, Kinder, denen nie vorgelesen wird. Da können die Kitas viel wettmachen. Und auch im schulischen Bereich – nicht nur an den Brennpunktschulen – sind die Unterschiede riesig. Teilweise hat jedes Kind ein eigenes Blatt auf dem Tisch liegen. Manche Kinder können bei der Einschulung schon schreiben, andere hatten noch nie einen Stift in der Hand. Da leisten unsere Grundschulen Herausragendes! Wir müssen an dieser Stelle mehr unterstützen – mit mehr Personal und multiprofessionellen Teams. Zusätzlich wollen wir ein pädagogisches Freiwilliges Soziales Jahr etablieren. Schwächere Schüler*innen profitieren außerdem von Gemeinschaftsschulen, die in Baden-Württemberg 2012 als neue Schulart eingeführt wurden.

Martina Wild: Da kann ich mich nur anschließen: Sprache ist ein wichtiger Schlüssel, gerade auch in einer so diversen Stadt wie Augsburg. Ich bin dankbar, dass wir in den letzten Jahren eine Förderung erhalten haben, mit der wir Sprachfachkräfte in den Kitas einstellen konnten. Mittlerweile ist das Programm zwar ausgelaufen, aber wir wollen nicht mehr darauf verzichten! Wir finanzieren die Sprachfachkräfte deshalb jetzt selber. Damit fördern wir direkt die Bildungsgerechtigkeit, denn auch wir stellen immer wieder fest: Nicht der Migrationshintergrund ist das Problem, sondern das soziale Milieu! Von Vorkursen und Deutschklassen profitieren alle und kleinere Klassen helfen allen – mit oder ohne Migrationshintergrund! Gleichzeitig braucht es heterogene Settings, um alle abzuholen.

Verena von Mutius-Bartholy: Heterogenität im Unterricht ist ein vielversprechender Ansatz, erfordert aber mehr Ressorcen. Angesichts der begrenzten Mittel und auch mit Blick auf den Personalmangel stellt sich die Frage, wie die vorhandenen Ressourcen optimal verteilt werden können. Wie steuert ihr, dass Angebote da ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden?

Theresa Schopper: Da sind wir gerade in der Erprobung. Mit den Brennpunktschulen müssen wir anfangen. Außerdem müssen Schulen in Zukunft offen bleiben, auch wenn die Pandemie noch nicht überstanden ist! Die Schulschließungen im Zuge des Lockdowns haben langfristig soziale Schäden angerichtet!

Martina Wild: In Augsburg war in diesem Kontext die enge Vernetzung und der Austausch mit Elternbeiräten, Kita- und Schulleitungen enorm wertvoll: Wir lernen voneinander, wir bekommen mit, wo Probleme liegen und können als Politik gezielt reagieren – zum Beispiel bei Armutsthemen. Was soll ein Kind, das mit seiner Familie ein einziges Zimmer bewohnt, im Homeschooling lernen, wenn es den Unterricht auf dem Handy verfolgen muss, weil es in der Familie keine Laptops gibt, während direkt daneben der Vater schläft, der im Schichtdienst arbeitet und erst morgens nach Hause kam? Das ist auch Realität in unserer Stadt. Zumindest was die fehlenden Gerätebetrifft, konnten wir gemeinsam mit Freiwilligenzentrum, Tür an Tür, Kinderchancen und anderen Akteur*innen Abhilfe schaffen.

Verena von Mutius-Bartholy: Die Diskrepanzen sind leider riesig im Hinblick auf Homeschooling-Bedingungen. Die technischen Voraussetzungen für eine Teilnahme am digitalen Unterricht können durch die Versorgung mit Geräten erfüllt werden. Aber welche Ideen gibt es auf pädagogischer Ebene

Theresa Schopper: Auch in Baden-Württemberg konnten wir Schulen mit Laptops ausstatten. Diese Geräte dürfen wir nun nicht in die Schränke räumen und sagen: Jetzt ist wieder Präsenzunterricht und wir brauchen die nicht mehr. Jetzt muss eine pädagogische Imprägnierung folgen! Dazu müssen wir Lehrer*innen an unterschiedlichen Stellen abholen. Das ist nochmal viel Arbeit.

Martina Wild: Und wir müssen unterstützende Strukturen schaffen und ausbauen! Unser Kita-Digitalisierungsprojekt geht jetzt in die 2. Runde. Dabei soll bereits im Bereich früher kindlicher Bildung Medienkompetenz gefördert werden. Damit machen wir dann in den Schulen weiter – dafür haben wir etwa unsere Medienscouts. Wir haben als Sachaufwandsträger Verantwortung für die Schulgebäude, aber um wirklich gute Bildungsorte im Sinne von Chancengerechtigkeit zur Verfügung stellen zu können, müssen wir unsere kommunale Bildungslandschaft ganzheitlich und gemeinschaftlich u. a. mit Volkshochschule, Stadtjugendring und den Akteur*innen kultureller Bildung gestalten! Verena von Mutius-Bartholy: Viel zu tun ist auch mit Blick auf die Klimakrise und andere ökologische, ökonomische und soziale Problemlagen. Baden-Württemberg ist Vorreiter im Bereich BNE. Was macht ihr richtig?

Theresa Schopper: 2016 haben wir fünf Leitperspektiven in die Bildungspläne aufgenommen. Eine davon ist BNE – neben Toleranz und Vielfalt, Verbraucherschutz, Demokratie und beruflicher Orientierung. Diese Leitperspektiven sind Querschnittsthemen, die nicht in einem konkreten Fach verortet sind, sondern alle Fächer betreffen. BNE hat gerade im schulischen Kontext ein enormes Potenzial. Schon die Kleinsten können Impulse nach Hause tragen und damit Multiplikator*innen sein! Wir können durch konkrete Aktionen vielfältige Lernprozesse anstoßen – zum Beispiel mit Solarrechnern, Müllaktionen oder Schulgartenprojekten. Nachhaltigkeit heißt ja nicht, dass ich mir im Schulgarten ein schönes Bio-Tomätle anbaue, sondern dass ich die Nachhaltigkeitsziele der UN mit auf den Weg nehme. Was bedeutet unser Leben für das Leben im Globalen Süden?

Verena von Mutius-Bartholy: Wie werden Schüler*innen motiviert, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen?

Theresa Schopper: Niemand ist so radikal wie Kinder. Sie sind oft schon von sich aus motiviert. Zusätzliche Motivation entsteht, wenn sie positive Effekte erleben. Schüler*innen einer Schule in Bretten bei Karlsruhe haben beispielsweise – übrigens schon vor der Ukraine-Krise – mit ihren Lehrkräften durchgerechnet, dass ihre Schule durch Energiesparmaßnahmen jährlich 8.200 Euro einsparen könnte. Wir suchen noch nach einer Möglichkeit, das eingesparte Geld teilweise wieder der Schule zugutekommen zu lassen, damit die Schüler*innen sehen, dass ihre Ergebnisse und Ideen auch bei ihnen selber fruchten – das sind dann die besten Botschaften!

Martina Wild: Es braucht wirklich nicht viel, um Kinder zu motivieren. Die Kinderaugen leuchten von selber, wenn sie den “Kleinen Wasserdrachen” sehen oder bei AuMida etwas aus recycelten Materialien gebastelt haben – da wird BNE konkret, da entsteht Gestaltungskompetenz. Wir haben in Augsburg ein paar Umweltschulen wie beispielsweise das Rudolf-Diesel-Gymnasium, aber ich möchte, dass alle Schulen mitmachen! Gleich nach der Amtsübernahme habe ich mich gefragt: Wo kann ich den Hebel ansetzen? Im Juli 2020 haben wir zum Beispiel fast komplett auf Recycling-Papier umgestellt. Außerdem wird die Stadt Augsburg als einziger Träger bayernweit einrichtungsübergreifend Eine-Welt-Kita. Wir erhöhen sukzessive den Anteil an Biolebensmitteln in Kitas und Schulen und können eine breite Palette an Aktivitäten anhand der Zukunftsleitlinien vorweisen. Mein Traum ist: BNE in Augsburg systematisch verankern und Dekadestadt werden. Das Umweltbildungszentrum, das nächstes Jahr seinen Betrieb aufnimmt, ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg. In allen Bildungseinrichtungen auch in der Erwachsenenbildung, soll BNE ganz selbstverständlich praktiziert werden. Augsburg ist auch die Stadt der 300.000 Chancen für eine nachhaltige Entwicklung!

MARTINA WILD, VERENA VON MUTIUS-BARTHOLY UND THERESA SCHOPPER (V.L.N.R.)

Martina Wild, Verena von Mutius- Bartholy und Theresa Schopper (v.l.n.r.) während des Bildungstalks

 

Beteiligte Personen