— von Claudia Roth

In einer inklusiven Gesellschaft gehören alle Menschen dazu und sollen selbstbestimmt teilhaben können. Jede und jeder ist Teil der Gemeinschaft, niemand wird an den Rand gedrängt. Die Zahl der Menschen, die in Armut leben oder von Armut bedroht sind, ist seit Jahren erschreckend hoch. Acht Millionen Menschen in Deutschland leben von Leistungen der sozialen Mindestsicherung. Daneben gibt es eine Vielzahl von Menschen, die in „verdeckter Armut“ leben, also Anspruch auf Leistungen haben, diese aber nicht in Anspruch nehmen. Betroffen sind nicht nur Erwerbslose, sondern auch immer mehr Menschen, die arbeiten, deren Einkommen aber nicht existenzsichernd ist. Sehr viele Kinder und auch immer mehr alte Menschen beziehen Grundsicherung.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“

Gemeinsam mit dem Sozialstaatsgebot des Artikels 20 Absatz 1 begründet Artikel 1 des Grundgesetzes das individuelle Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums – auch in Phasen ohne oder mit nur geringem Erwerbsein- kommen. Dazu gehört neben der Deckung des „physischen Existenzminimums“ auch ein gewisses Maß an sozialer und kultureller Teilhabe, beispielsweise um ins Kino, Schwimmbad oder in einen Sportverein gehen zu können. Die Leistungen der sozialen Mindestsicherung sollen Menschen vor Armut schützen und selbstbestimmte Teilhabe ermöglichen. Denn das Recht auf ein Leben in Würde steht jeder und jedem zu. Dieser Anspruch wird heute schon nicht erfüllt, weil die Regelbedarfe viel zu knapp kalkuliert sind. Die geringste Kürzung führt dazu, dass Teilhabe noch weiter eingeschränkt wird. Nach geltendem Recht führt aber bereits die erste Pflichtverletzung dazu, dass der Regelbedarf der Person, der die Sanktion auferlegt wird, um 30 Prozent gekürzt werden kann. Bei wiederholten Pflichtverletzungen werden nicht einmal mehr die Kosten der Unterkunft weiter bezahlt. Unter-25-Jährigen wird der Regelbedarf bereits bei der ersten Pflichtverletzung vollständig entzogen.

Viele Sanktionen werden zu Unrecht ausgesprochen und führen zu sozialen Härten

80 Prozent aller Sanktionen werden derzeit wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen – etwa, wenn Bezieherinnen oder Bezieher unentschuldigt einen Termin beim Jobcenter nicht wahrnehmen. Nur knapp zehn Prozent werden verhängt, weil sich jemand weigert, eine Arbeit anzunehmen oder weiter aus- zuführen. Es ist zwar ein berechtigtes und wichtiges Ziel die gegenseitige Verbindlichkeit im Fallmanagement zu stärken, aber ein Nachweis, dass die Sanktionspraxis einen Beitrag zur nachhaltigen und langfristigen Eingliederung in den Arbeitsmarkt leistet, liegt nicht vor. Die Kürzung der Leistung führt häufig lediglich zur kurzfristigen Aufnahme von Arbeit, um die aktuelle Notlage zu überbrücken. Wenn die Kosten der Unterkunft gestrichen werden, droht der Verlust der Wohnung bis hin zur Obdachlosigkeit. Die mit den Sanktionen verbundenen sozialen Härten sind besonders angesichts der Tatsache bedenklich, dass viele Sanktionen zu Unrecht ausgesprochen und von den Sozialgerichten wieder zurückgenommen werden.

Mehr Unterstützung und bessere Rahmenbedingungen

Trotz einer ausgezeichneten Lage auf dem Arbeitsmarkt sind noch immer etwa eine Million Menschen länger als zwölf Monate ohne Erwerbsarbeit. Sie brauchen sehr viel mehr Unterstützung und bessere Rahmenbedingungen. Nicht Sanktionen, nicht die Praxis von Androhung und Bestrafung, sondern faire Spielregeln, Motivation und Bestärkung der Arbeitssuchenden müssen die Arbeit in den Jobcentern bestimmen. Die Aufnahme oder die Ausweitung einer Erwerbstätigkeit verbessert die finanzielle Situation für Beschäftigte mit niedrigen Löhnen, Kindern oder hoher Mietbelastung häufig nicht, weil die Belastung mit Sozialabgaben selbst bei kleinen Einkommen schon sehr hoch ist und die Grundsicherung für Arbeitssuchende zu schlecht mit dem Wohngeld und den Leistungen für Familien abgestimmt ist. Das kann zur Folge haben, dass die Ausweitung der Erwerbsarbeit dazu führt, dass sogar weniger Geld im Portemonnaie ist.

Mehr Personal für das „Kerngeschäft“ Beratung und Vermittlung

Derzeit ist eine Arbeitsvermittlerin bzw. ein Arbeitsvermittler für rund 150 Arbeitssuchen- de zuständig. Immer noch müssen die Jobcenter einen Teil ihrer Verwaltungskosten (2016: 764 Mio. Euro) aus dem Budget bestreiten, das eigentlich für die Eingliederung zur Verfügung stehen soll. Dabei sinken diese Mittel ohnehin seit Jahren. Ein zu hoher Anteil des Personals ist deshalb mit der Berechnung von Leistungen und/oder mit der Berechnung und Durchsetzung von Sanktionen beschäftigt. Vor allem die vielen Rechtsstreitigkeiten binden Personal in den Jobcentern und auch in den Gerichten. Dieses Personal steht nicht für die Beratung und Vermittlung zur Verfügung. Die Gründe, warum Menschen langzeitarbeitslos werden, sind vielfältig. Unzureichende Qualifikation, Lebensalter, gesundheitliche und persönliche Probleme aufgrund besonderer Lebensereignisse werden im Verlauf der Arbeitslosigkeit zu sogenannten Vermittlungshemmnissen. Gleichzeitig besteht ein struktureller Mangel an passgenauen Arbeitsplätzen. Die individuellen Stärken und Fähigkeiten zu kennen und zu berück- sichtigen, ist wichtige Grundlage für den Erfolg einer Maßnahme – für den einzelnen Arbeitssuchenden und auch für die Behörde. Nach wie vor haben Maßnahmen Vorrang, welche die unmittelbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen. Eine Vermittlung in Ausbildung kommt dann in Betracht, wenn kein Berufsabschluss vorliegt. Das trägt nicht für jene Menschen, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Die Erwartung, jeder und jede Arbeitslose könne automatisch von einer guten Arbeitsmarktlage profitieren, hat sich als Illusion erwiesen. Auch Menschen ohne absehbare Perspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt haben aber ein Recht auf Teilhabe durch Arbeit.

Wir haben als Grüne Bundestagsfraktion im April 2018 deshalb in einem Antrag im Deutschen Bundestag gefordert:

1. Die soziale Mindestsicherung wird nicht mehr durch Sanktionen gekürzt, die gesetzlichen Möglichkeiten zur Kürzung werden ersatzlos aufgehoben.
2. Steuern, Sozialabgaben und soziale Leistungen werden so aufeinander abgestimmt, dass (zusätzliche) Erwerbsarbeit die Menschen immer spürbar besser stellt.
3. Die Jobcenter werden bedarfsdeckend mit Personal und Mitteln zur Eingliederung und für die Verwaltung ausgestattet.
4. Das Fallmanagement in den Jobcentern wird verbessert. Arbeitssuchende erhalten passgenaue Hilfen und garantierte Angebote zur Qualifizierung und Weiterbildung, die individuell auf sie zugeschnitten sind, sowie ein Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der Maßnahmen und der Gestaltung des Integrationsprozesses.
5. Für über 25-Jährige, die bereits länger als 24 Monate arbeitslos sind und absehbar keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt haben, können die Jobcenter Regelbedarfe und Kosten der Unterkunft in einen Zuschuss zu den Lohnkosten umwandeln. Damit entsteht ein sozialer Arbeitsmarkt, der mit individuell geförderter, sozialversicherungspflichtiger und fair entlohnter Beschäftigung neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht.

(Für die Inhalte dieser Seiten ist die Bundestags abgeordnete Claudia Roth verantwortlich.)

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