Claudia Roth
Es gilt das gesprochene Wort

Grußwort zum Neujahrsempfang der grünen Stadtratsfraktion Augsburg  

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Grüne und womöglich noch-nicht-Grüne, liebe Ska!
Ich freue mich wirklich sehr, heute hier sein zu dürfen, und irgendwie ergibt alles einen Sinn: Nachdem ich meinen diesjährigen Neujahrs-Empfangs-Marathon ausgerechnet in Babenhausen beginnen durfte –dort also, wo ich aufgewachsen bin –beende ich ihn heute mit euch und Ihnen, in meinem schönen, bunten, herzenswarmen Augsburg. Und auch, wenn das neue Jahr schon einige Wochen alt ist, möchte ich selbstverständlich damit beginnen, Ihnen und euch ein gesundes und glückliches, ein friedliches, ein Jahr 2019 voller Wertschätzung, voller Liebe und gegenseitigem Respekt zu wünschen.

Dieses 2019 aber wird uns allen einiges abverlangen, insbesondere auch uns Grünen – mit Kommunalwahlen und vier Landtagswahlen, als Oppositionsführer im Münchner Landtag, mit der Europawahl im Mai. Lasst uns deshalb den Rückenwind aus den letzten Monaten mitnehmen, all diese Zugewandtheit und Ermutigung, all diese Neugier, die wir erlebt haben – diese Offenheit in der Bevölkerung für eine grüne Politik der klaren Worte und klugen Konzepte. Diesen Schwung, diesen Vertrauensvorschuss kann uns niemand nehmen. Vertrauensvorschuss aber, das bedeutet immer auch Erwartung. Mit anderen Worten: Jetzt müssen wir liefern – und wir WERDEN liefern!

Da ich nicht allzu viel Zeit habe, lasst mich in dem Zusammenhang auf drei Bereiche eingehen, die mir da besonders wichtig erscheinen. Erstens: Das Jahr 2019 fällt in eine Zeit, in der vieles nicht mehr selbstverständlich scheint. Vor gut einer Woche hat der Holocaust-Überlebende Prof. Dr. Saul Friedländer eine sehr bewegende Rede im Bundestag gehalten. „Die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken“, hat er gesagt, „ein sich immer weiter verschärfender Nationalismus sind überall auf der Welt auf dem Vormarsch.“ Damit hat er sicher Recht, und damit spricht er auch uns an. Aus guten Gründen nämlich werden WIR wahrgenommen als DIE Kraft, als DIE Partei, die dem Nationalismus, Rechtsextremismus und Rassismus besonders konsequent die Stirn bietet und eine Idee, UNSERE Idee von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat entgegensetzt. Das ist Anerkennung und Aufgabe zugleich! Umso wichtiger wird es sein, nicht zu glauben, dass das Schlimmste überstanden sei. Umso wichtiger wird es sein, denjenigen zu widersprechen, die meinen, wieder bestimmen zu dürfen, wer dazugehört und wer nicht – die zwar Meinungsfreiheit sagen, aber Hass und Hetze meinen. Umso wichtiger wird es sein, all der Entmutigung weiter Zuspruch, der Angstmache die nötige Perspektive, den einfachen die relevanten Antworten entgegenzusetzen – vor allem aber auch das Kind beim Namen zu nennen: das Problem heißt Rassismus, vermehrt auch salonfähiger Alltagsrassismus, manchmal ethnisch, häufiger kulturell, und dieser Rassismus ist keine Meinung, die es mal eben in den Talkshows dieser Republik auszuhandeln gilt, sondern ist und bleibt Rassismus. Um also den Auftrag an uns als Gesellschaft erneut mit Prof. Friedländer zu umschreiben: „Wir alle hoffen, dass Sie die moralische Standfestigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum: für die wahre Demokratie zu kämpfen.“ Und genau das wollen wir tun, zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai – für Menschen wie Charlotte Knobloch, vor allem aber für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, für unsere starke und vielfältige Demokratie, in Deutschland und in Europa.

Und das ist mein ZWEITER Punkt, liebe Ska, liebe Freundinnen und Freunde: die Bedeutung unseres Europas in einer Welt voller Konfrontation und Konflikt. Immer wieder stellen mir Freundinnen und Freunde in der Türkei eine Frage, die mir zu denken gibt: Wisst ihr eigentlich, fragen sie, wisst ihr eigentlich, wir reich euch dieses gemeinsame Europa macht? Und ein ums andere Mal denke ich: Ja, wir wissen das, aber wissen wir es auch wirklich zu schätzen? Haben wir es genug vermittelt? Dieses Europa, es hat uns 70 Jahre lang Frieden beschert, war stets auch Ruhepol im globalen Wirrwarr. Dieses Europa, es hat gerade UNS wirtschaftlich unglaublich stark gemacht.   Dieses Europa, das im Zweifel selbst unsere grüne Jugend als Heimat bezeichnet – Heimat Europa. Liebe Freundinnen und Freunde, natürlich ist nicht alles gut auf europäischer Ebene, noch nicht. Zurecht setzen wir uns ja dafür ein, dass die Europäische Union gerechter, ökologischer, transparenter – dass das Gemeinsame gemeinsamer wird. Zurecht fordern wir ein grundlegendes Umdenken, wenn 80 Prozent der europäischen Agrarsubventionen an gerade einmal 20 Prozent der Höfe gehen –diejenigen nämlich, die auf Fläche und Masse und Industrialisierung setzen. Und zurecht sagen wir ganz deutlich: Die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland ist auch UNSERE Arbeitslosigkeit. Und wenn im letzten Jahr mindestens 2275 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken sind, dann ist es unser ALLER Verantwortung, dieser unaussprechlichen Tragödie und bodenlosen Schande endlich ein Ende zu setzen. Aber all das tun wir aus Überzeugung. All das tun wir, weil wir fest daran glauben, dass der europäische Weg der richtige ist. All das tun wir, weil wir wissen, dass die meisten Menschen dieses gemeinsame Europa wollen, dass sie aber verständlicherweise auch wissen wollen, warum sie es wollen SOLLEN. Genau darauf wird es also ankommen: glaubwürdig zu vermitteln, warum uns dieses Europa – in all seiner Unvollkommenheit – stark macht in einer Welt der Demokratieverächter und Rechtsstaatsfeinde –in einer Welt, in der wir die zentralen Herausforderungen nur gemeinsam werden lösen können. Und zu diesen Herausforderungen gehört dann auch, drittens, die vielleicht größte: die Klimakrise. Auch DIE macht an der Landesgrenze nicht Halt. Wenn UN-Generalsekretär Antonio Guterres also betont, es gehe längst um Leben und Tod; wenn die renommiertesten Wissenschaftler dieser Erde warnen, dass dem Planeten ganz konkret die Unbewohnbarkeit droht – dann braucht es auch hier gemeinsame, dann braucht es auch hier europäische Antworten. Und nein, natürlich ist niemandem damit geholfen, wenn wir den Teufel an die Wand malen. Es ist aber auch niemandem damit geholfen, wenn wir den Kopf in den Sand stecken – aus Sorge, die Radikalität der realen Herausforderung könnte verschrecken. Und radikal, so beschreiben es die Menschen, für die die Klimakrise längst kein theoretisches Phänomen mehr ist –just in den Ländern, die historisch am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben.

Deswegen: Lasst uns auch hier konsequent sein in der Sache, und deutlich in unseren Forderungen. Lasst uns immer und immer wieder erläutern, warum Klimaschutz und Gerechtigkeit, warum Kohleausstieg und Arbeitsplätze zusammengehören, denn: there are no jobs on a dead planet. Lasst uns zugleich aber respektvoll bleiben, zuhören und erklären, lasst uns immer wieder auch dorthin gehen, wo wir nicht mit offenen Armen empfangen werden. Denn ja, gerade in diesem Jahr wird es einmal mehr auf UNS ankommen –im Einsatz für einen lebenswerten Planeten; im Einsatz für unsere wunderbare, streitbare Demokratie; im Einsatz für ein solidarisches Europa. Im letzten Jahr haben wir gezeigt, dass wir uns nicht verstecken brauchen, dass wir Zuversicht vermitteln und Verantwortung übernehmen können. 2019 legen wir eine europäische Schippe drauf! Und 2020 besetzen wir die Rathäuser!

Vielen Dank.