— von Claudia Roth

Kein Mensch verlässt seine Heimat leichtfertig

Das politische Handeln bei uns in Deutschland trägt tagtäglich dazu bei, dass Menschen in den armen Teilen der Welt ihre Lebensgrundlage verlieren und ihre bisherige Heimat hinter sich lassen müssen. Denn unsere Handelspolitik, unsere Agrarpolitik, unsere Kohlepolitik, unserer Verkehrspolitik oder unsere Rüstungsexportpolitik sind einseitig und unfair ausgerichtet und schaden der globalen Gerechtigkeit. Wenn wir gleichzeitig Entwicklungszusammenarbeit leisten, ist das in etwa so, als ob man von einer Seite Fässerweise Öl in ein riesiges Feuer kippt und gleichzeitig von der anderen Seite mit einer Wasserpistole versucht, das Feuer zu löschen.

Unsere Handels- und Exportpolitik entzieht Menschen in Afrika die Lebensgrundlagen

Gerade auf unserem afrikanischen Nachbarkontinent werden immer mehr Menschen ihrer Existenz beraubt. Der senegalesische Fischer, dessen Netze aufgrund europäischer Fischflotten leer bleiben, die Kleinbäuerin aus Ghana, deren Tomaten und Hähnchen gegenüber den Billigprodukten aus Europa nicht konkurrenzfähig sind oder die Hirtenfamilie aus der Sahelzone, die aufgrund von Dürren und Konflikten ihre Lebensgrundlage verloren hat. Sie alle verlassen ihre bisherige Heimat wegen verloren gegangener oder zerstörter Perspektiven.

Aber statt etwas daran zu ändern, was unsere Politik zu Fluchtursachen weltweit beiträgt, betreiben Bundesregierung und Europäische Kommission derzeit Flüchtlingsabwehr. Deswegen reiste Kanzlerin Merkel auch im Oktober durch Afrika.

Europa betreibt Flüchtlingsabwehr statt Fluchtursachenbekämpung

Das Muster des EU-Türkei-Deals soll nun auf zahlreiche andere Länder angewendet werden, wie etwa Niger, Nigeria, oder Äthiopien. Noch dazu am Europäischen Parlament vorbei. Das ist nicht nur vollkommen undemokratisch, sondern auch politisch geradezu wahnwitzig. Trotz massiver Abschottung in den letzten Monaten und Jahren ertrinken auch weiterhin tausende Menschen im Mittelmeer. Wer glaubt, das Sterben durch noch mehr Abgrenzung schon irgendwie beenden zu können, erliegt einem fatalen Irrtum und handelt auf Kosten der Schutzbedürftigen.

Entwicklungspolitik darf nicht zur Abschottung missbraucht werden

Handelsbeziehungen, Entwicklungsgelder und andere Finanzmittel sollen jetzt künftig dafür eingesetzt werden, dass Drittländer Migrant*innen daran hindern, Europa zu erreichen. Die Ankündigung, europäische Entwicklungszusammenarbeit fortan konditionieren zu wollen und Länder zu bestrafen, die bei der Migrationskontrolle nicht ausreichend kooperieren, ist nicht hinnehmbar. Entwicklungspolitik muss die Situation und Unterstützungsbedürftigkeit der Menschen zum Maßstab haben, nicht das Verhalten der Regierung in Fragen der Grenzkontrolle und Abschottung.

Selbstverständlich ist es richtig, Ländern wie Libyen beim Aufbau rechtstaatlicher Strukturen nach aller Kraft beizustehen. Auch spricht nichts dagegen, die Zivilbevölkerung in Äthiopien oder Niger zu unterstützen. Wenn aber nun das gesamte außenpolitische Handeln der EU und ihrer Mitgliedstaaten dem Leitmotiv weiterer Abschottung untergeordnet werden soll, ist das der vollkommen falsche Weg!

Menschenrechtsbasierte Außenpolitik muss Grundlage Sein

Die Bundesregierung betreibt derzeit in Brüssel die Abkehr von einer menschen-rechtsbasierten Außenpolitik und einer Entwicklungspolitik, die sich dem Ziel der Armutsreduzierung und der Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele verschreibt. Das einzige neue Ziel lautet Flüchtlingsabwehr.

Strukturen unseres eigenen Handelns überdenken

Wir fordern stattdessen in unserem Grünen Bundestagsantrag, die Strukturen unseres Handelns zu überdenken und nach der eigenen Verantwortung zu fragen. Wir exportieren Rüstungsgüter in Krisengebiete, überfischen die Weltmeere und nehmen in Kauf, dass unser Export und Konsum andernorts zu Armut und Zukunftslosigkeit führen. Viel zu oft haben wir – ebenso wie die Regierungen und Konfliktparteien vor Ort – bei der Konfliktprävention und Friedensschaffung versagt. Und die von uns mitverursachte Klimakrise führt weltweit zu immer mehr Dürren, Stürmen und Ernteausfällen.

All das erzeugt Flucht und Vertreibung, wird aber weder mit höheren Zäunen, mit Patrouillenbooten oder durch Pakte mit Despoten zu lösen sein. Mit unserem Ansatz setzen wir uns deshalb für eine kohärente internationale Politik ein – und fordern strukturelle Reformen in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Handel und Klimaschutz.

Konkret fordern wir:

Die diplomatischen Anstrengungen bei der Bearbeitung und politischen Beilegung aktueller Krisen sowie die zivile Krisenprävention massiv zu verstärken, und dabei etwa Rüstungsexporte in Krisengebiete und an Staaten mit einer hochproblematischen Menschenrechtslage zu stoppen; innerhalb der EU und in den EU-Außenbeziehungen auf die verbesserte Anerkennung nationaler Minderheiten und die Verbesserung ihres Schutzes vor Diskriminierung zu drängen; die negativen Folgen unseres Wirtschaftens für andere Weltregionen abzustellen, um Armut und Zukunftslosigkeit zu bekämpfen; das Klima zu schützen, die ärmsten Staaten bei der Anpassung an Klimaveränderungen entschieden zu unterstützen und Klimaflüchtlinge zu schützen; Aufnahmeund Transitländer bei der Unterbringung und Versorgung sowie bei der Stabilisierung und der Integration der Geflüchteten in die Gesellschaft aus humanitären Gründen zu unterstützen; die multilaterale Kooperation bei der Festsetzung globaler Maßnahmen und Regeln für mehr globale Gerechtigkeit und Klimaschutz zu stärken, vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen; sowie Entwicklungs- und Migrationspolitik stärker zu verschränken, legale Fluchtwege und Migrationsmöglichkeiten zu schaffen.

Globale Gerechtigkeit nur durch grundlegende Umgestaltung unserer Politik

Wenn wir tatsächlich dafür sorgen wollen, dass weniger Menschen fliehen müssen, und nicht nur erreichen wollen, dass weniger Menschen bei uns ankommen, dann müssen wir unsere Politik in vielen Feldern ganz grundlegend Umgestalten.

 

„SO GEHT DEUTSCHL AND – EINE ANSTIF TUNG ZUM MITMACHEN UND EINMISCHEN“
Seit November im Handel ist das neue Buch von Claudia Roth und Fetsum Sebhat und ist ein Plädoyer für das moderne, vielfältige und weltoffene Deutschland.

Der Wind scheint sich zu drehen in Deutschland: Ein Ende der Willkommenskultur und der Aufstieg des Rechtspopulismus bedrohen die Fortschritte, die in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurden. Und die Fundamentalablehnung unserer »Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung« kommt mittlerweile von rechts. Jetzt ist Dagegenhalten angesagt. Claudia Roth, die grüne Feministin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, und der aus einer eritreischen Familie stammende Musiker Fetsum Sebhat treten an zur Verteidigung ihres Deutschlands. Ihr klares Plädoyer lautet: Die Abschottung und der Rückmarsch in die fünfziger Jahre ist keine Option für ein modernes, tolerantes und weltoffenes Land in den Zeiten der Globalisierung. Anschaulich und engagiert schildern sie, was dieses Land ausmacht, an dessen Veränderung sie mitgearbeitet und das sie schätzen gelernt haben. Und sie appellieren an unseren Bürgersinn: Nur wer mitmacht und sich einmischt, kann Einfluss darauf nehmen, wohin es mit Deutschland geht.

(Für die Inhalte ist die Bundestagsabgeordnete Claudia Roth verantwortlich)

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